Mittwoch, 14. September 2011

Endspurt gegen die Vorratsdatenspeicherung

Wenn bis heute Abend 50.000 Menschen die Petition gegen die Vorratsdatenspeicherung mitzeichnen, kann das Anliegen öffentlich vor dem Petitionsausschuss des Bundestags vorgetragen werden. Bisher haben mehr als 47.000 Menschen gegen das geplante Überwachungsgesetz unterschrieben. Daher bitte ich euch heute die Petition mitzuzeichnen. Hier geht's direkt zur Petition.

Worum geht es bei der von der schwarz-gelben Bundesregierung geplanten Vorratsdatenspeicherung?
Verdachtsunabhängig sollen die Standortdaten von Handygesprächen, die Gesprächspartner von allen Telefonaten, die IP-Adresse, mit der im Internet gesurft wurde und der Adressat von E-Mails für einen gewissen Zeitraum gespeichert werden. Im Falle einer Strafverfolgung können die zuständigen Behörden auf diese Daten zugreifen und sie auswerten.

Abgesehen von dem hohen Missbrauchspotential, das diese Daten beinhalten, ist es falsch 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger unter einen generellen Verdacht zu stellen und vorsorglich zu überwachen. Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht so und urteilte 2010, dass das damalige Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verfassungswidrig war. Aktuell plant die Koalition ein neues Gesetz. Um das zu stoppen läuft seit knapp drei Wochen die Petition.

Und so funktioniert das Ganze:

Montag, 22. August 2011

Die Krise und ich

Absurd. Kein Wort beschreibt die aktuelle Situation besser als absurd. Egal, welche Zeitung man aufschlägt, welchen Sender man anstellt: Die Krise ist allgegenwärtig. Immobilien, Banken, Börse, ja sogar ganze Staaten hat sie erfasst. Seit 2008 rast die Welt unaufhaltsam von einem Abgrund zum nächsten. An der Börse werden in einer Woche Billionen verbrannt. Es klingt nach 1929, nach Schlange stehen vor Suppenküchen, Armut, Massensuizid der Banker, Arbeitslosigkeit und Depression. Aber nichts dergleichen passiert. Im Gegenteil, die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie lange nicht mehr, manche Politiker sprechen schon von einer neuen Ära der Vollbeschäftigung. Eine Spurensuche von Oliver.

Es ist die schlimmste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten und ich habe nicht einen Cent weniger im Geldbeutel. Zumindest kommt es mir nicht so vor. Zeit, auf Spurensuche zu gehen. Wo ist die Krise? Was passiert mit meinem Geld, sind meine Ersparnisse gefährdet? Dominik Groll sollte es wissen. Er arbeitet beim Institut für Wirtschaftsforschung (IfW) in Kiel. »Also, wenn man keine Aktien hat, ist man erst mal nicht betroffen.« Das klingt fast beruhigend, nach den Krisenschlagzeilen der letzten Woche. Wer Aktien hat, weiß, dass die Kurse rauf und runter gehen, kein Grund zur Sorge. Eigentlich. Vor einigen Jahren habe ich einen kleinen Betrag in einem Aktienfonds meiner Hausbank angelegt. Hausbank klingt dabei schon reichlich hochtrabend für die örtliche Sparkassenfiliale. Für die Wertentwicklung habe ich mich bisher nicht groß interessiert. Der Einbruch ist eine gute Gelegenheit, das zu ändern.

Wirtschaftskrise damals und heute
Es dauert etwas, aber nach kurzen Suche finde ich die Wertentwicklung meiner Anlage. Und tatsächlich: wie bei fast allen Papieren ist ihr Wert rapide gefallen. Wenn ich sie jetzt verkaufe, würde ich einen Verlust machen. Aber das will ich ja gar nicht. Irgendwann wird der Kurs auch wieder steigen. Denn Aktien sind Anteile an Firmen und damit Gradmesser der Konjunktur. Aber wie kann es sein, Herr Groll, dass die Realwirtschaft von der aktuellen Krise scheinbar unberührt bleibt? »Das Kurzarbeitergeld ist auf jeden Fall nicht der Grund. Kurzarbeit gibt es schon lange. Aber die Arbeitsmarktreformen zwischen 2002 und 2005 haben dazu beigetragen, die strukturellen Defizite zu verbessern. Auswirkungen treten immer mit Verzögerung auf. Und jetzt haben wir das Glück, dass die positive Wirkung der Reformen genau in die Zeit der Turbulenzen fällt und diese so abgemildert werden.«

Ein weitere Auswirkung der Krise: Die Staatsverschuldung steigt in astronomische Höhen. Derzeit liegt sie in Deutschland bei über zwei Billionen Euro. Eine Zwei mit 12 Nullen. Was ist mit den Bürden, die der nächsten Generation in Form des Schuldenbergs aufgehalst werden? »Das kommt auf die Reaktionen der Politik an, unmöglich die jetzt vorherzusagen. Aber ab 2016 gilt ohnehin die gesetzliche Schuldenbremse. Ab da darf der Staat nur noch Schulden machen, die 0,35 Prozent des BIP entsprechen. Es wird also so oder so zu Kürzungen kommen.« 0,35 Prozent. Das ist ein Zehntel dessen, was der Staat in den vergangenen Jahren an Krediten aufgenommen hat. Vielerorts wird gerade darüber debattiert, wie viele Schwimmbäder sich die Städte noch leisten können; Bibliotheken werden geschlossen. Ist das die Katastrophe? Die Schulden jetzt sind die geschlossenen Schwimmbäder von morgen?

Anruf beim deutschen Städtetag. Die Dame möchte lieber nicht namentlich genannt werden. »Schreiben Sie: Eine Pressesprecherin!«. Ja, es stimme die Krise habe die Schuldenlage der Städte weiter verschlimmert. »Die Gewerbesteuer ist eingebrochen, gleichzeitig stiegen die Ausgaben für Soziales, sprich Erwerbslose. Erst 2012 werden wir wieder auf dem Stand von 2008 sein«. Gewerbesteuer zahlen Unternehmen in der Stadt, wieder die Realwirtschaft. Städte verlieren in Krisen doppelt: Die Gewerbesteuern, die wichtigste Einnahmequelle der Städte bricht ein, gleichzeitig tragen sie die Kosten der steigenden Arbeitslosigkeit, vor allem die Wohnungskosten von Arbeitslosen. Aber der Realwirtschaft geht es doch zur Zeit gut. Wie können da die Städte betroffen sein? »Neben den Krisen gab es in den vergangenen Jahren viele Entscheidungen im Bund zu Lasten der Kommunen. Den Ausbau der Kitas beispielsweise müssen die Kommunen alleine stemmen«. Die Krisen sind also allenfalls ein Teil des Problems. Politische Weichenstellung ist mindestens genauso entscheidend.

Demonstration von Bürgermeistern und Kämmerern vor dem Landtag in Düsseldorf. Bildquelle: Focus Online
Und was macht die Krise mit meinem Geld, heute? Franz Herrmann spricht mit weichem bayerischen Akzent. Der 66-jährige war Unternehmer. Seit er im Ruhestand ist, beschäftigt er sich mit Geld. Ende der 90er gründete er den Bund der Sparer, seitdem schreibt er Bücher mit Titeln wie Die Finanzbibel. Sein neustes Werk heißt Die Finanzlüge. »Die Schulden sind enorm. Deutschlands Schulden liegen bei 85 Prozent des BIP, in Italien sind es sogar 145 Prozent! Da gibt es nur einen Weg heraus: Inflation! Die Staaten werden alle die Notenpressen anwerfen und unsere Ersparnisse verlieren an Wert. Das ist die Folge der Krise! Und ich sage Ihnen, das Beste was sie machen können: Kaufen Sie Gold! Nicht gleich in ganzen Barren, sondern kleine Portionen, die Sie schnell zu Geld machen können!«

Besonders in Krisenzeiten als stabile Wertanlage beliebt. (Bildquelle: covilha)
Inflation heißt, es gibt mehr Geld, bei der gleichen Menge an Waren und Dienstleistungen. Das Geld verliert dadurch seinen Wert. Ein Pfund meines bevorzugten Kaffees ist in den letzten Wochen einen Euro teurer geworden. Ein Preisanstieg von 20 Prozent. Die Benzinpreise sind im Schnitt um 15 Prozent gestiegen. Das geht ins Geld. Das wäre aber einfacher zu verkraften, wenn die Gewinne unter denen verteilt worden wären, die sie erwirtschaftet haben. De facto ist Deutschland das einzige Land der EU, in dem die Reallöhne in den vergangenen zehn Jahre gefallen sind. Die Gewinne des Wirtschaftswachstums gingen vor allem an obere Einkommensschichten, untere und mittlere haben verloren. Das ist keine Krise der Börse, sondern der Lohnpolitik und der Einstellung der wirtschaftlichen Eliten. Aber noch gehöre ich zu keiner Einkommensgruppe. Meinen Nebenjob kann ich jedenfalls nicht mit einem Familieneinkommen vergleichen.

Ich denke noch mal kurz über Herrn Herrmanns Rat nach. Die Inflation frisst ja schließlich das Geld auf meinem Konto. Andererseits: Ein Gramm Gold kostet derzeit etwa 41 Euro. Dafür bekomme ich schon ein Buch für’s Studium – oder kann drei mal ins Kino gehen. Ich werde noch warten mit dem Goldkauf. Denn auch der Goldpreis spiegelt nur Erwartungen wieder. Und wer weiß, wann wieder ein Preisverfall erwartet wird.

Sonntag, 21. August 2011

Kreative Pause

Seit fast zwei Monaten gab es keinen Post mehr von mir, da ich mitten in der Klausuren- und Abschlussphase meines Studiums stecke. Sobald diese vorbei ist, werde ich wieder regelmäßig schreiben. Ich habe bereits verschiedene Ideen für neue Artikel und freue mich schon auf das Recherchieren und Bloggen. In der Zwischenzeit und hoffentlich auch darüber hinaus wird es Artikel von Gastautor Oliver geben.

Samstag, 2. Juli 2011

Mehr Demokratie wagen – Reform des Wahlrechts (Teil 1)

Update: Deutschland hat seit gestern kein verfassungskonformes Wahlrecht mehr. Vor zwei Tagen lief die vom Bundesverfassungsgericht gesetzte First zur Reform des Wahlrechts ab. Der ehemalige Verfassungsrichter Papier warnt vor einer »schweren Staatskrise«, da nun keine verfassungskonformen Neuwahlen stattfinden können. Die schwarz-gelbe Koalition hat zwar einen ersten Entwurf vorgelegt, der das negative Stimmrecht beseitigen soll, indem die Überhangmandate nicht mehr zwischen den Bundesländern verrechnet werden. Die Verzerrungen durch die Überhangmandate blieben jedoch erhalten, weil vor allem die Union von diesen profitiert. Ein parteiübergreifender Kompromiss, wie bei früheren Wahlrechtsreformen üblich, scheint nicht realistisch.

Das Bundestagswahlrecht »beeinträchtigt die Stimmgleichheit in eklatanter Weise«, urteilte das Bundesverfassungsgericht 2008 und gab dem Gesetzgeber Zeit es bis zum 31. Juli 2011 zu ändern. Momentan gibt es aber noch keinen mehrheitsfähigen Änderungsentwurf. Dieser Post analysiert die Hintergründe zum Wahlrecht und seine möglichen Alternativen.

Das Gericht kritisierte in seinem Urteil das negative Stimmgewicht, das dazu führen kann, dass die WählerInnen mit ihrer Stimmabgabe der gewählten Partei schaden. So kam es bei der Nachwahl zur Bundestagswahl 2005 im Wahlkreis Dresden I zu der paradoxen Situation, dass die CDU ihre AnhängerInnen dazu aufrief, sie nicht mit der Zweitstimme sondern nur mit der Erststimme zu wählen. Dadurch gewann die Union ein zusätzliches Überhangmandat. Dieses Phänomen tritt regelmäßig bei Bundes- und der Mehrheit der Landestagswahlen auf. Weitere Informationen, Details und Beispiele zum negativen Stimmgewicht finden sich im Dossier von wahlrecht.de.

Andreas Lämmel (CDU) gewann das Direktmandat in Dresden I 2005 (Foto von Frank Ossenbrink)
Unterschied zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht
Das deutsche Wahlsystem unterscheidet sich deutlich vom dem in den USA, Großbritannien oder Frankreich. Bei einer Verhältniswahl wie in Deutschland, Österreich, der Schweiz, den Benelux-Staaten und Skandinavien gilt, dass sich die Verteilung der Sitze im Parlament generell nach der Zahl der Stimmen richtet, die eine Partei erhält. Im Mehrheitswahlrecht ist das Land in so viele Wahlkreise aufgeteilt, wie es Mandate im Parlament gibt. Der/Die Kandidat/in, der/die die meisten Stimmen auf sich vereinigen kann, wird Abgeordnete/r für den Wahlkreis. Dabei ist zwischen relativer und absoluter Mehrheit zu unterscheiden. Bei der zweiten Variante kann es zu einer Stichwahl kommen, wenn keiner der KandidatInnen die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Die erste Variante wird vor allem in anglo-amerikanischen Ländern verwendet, die zweite Variante beispielsweise in Frankreich.

Die Mehrheitswahl führt häufig zu eindeutigen Mehrheiten im Parlament, so dass Koalitionsregierungen relativ selten auftreten. In Großbritannien gab es beispielsweise seit dem Zweiten Weltkrieg nur zwei Wahlen, nach denen keine Partei eine absolute Mehrheit im Unterhaus hatte. Die aktuelle Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten ist deshalb eine Ausnahmeerscheinung. Auch ist die Bindung zwischen Abgeordneten und den WählerInnen größer, da sie persönlich und nicht über Listen gewählten wurden.

Der zentrale Vorteil der Verhältniswahl ist hingegen die gerechte Verteilung der Sitze entsprechend der Stimmen. Bei der Bundestagswahl 2009 erhielt die SPD 23 Prozent der Zweitstimmen und hat im Bundestag 23,5 Prozent der Sitze. In Großbritannien kamen die Liberaldemokraten 2010 ebenfalls auf 23 Prozent der Stimmen, erhielten aber nur 8,8 Prozent der Mandate. Die Verzerrung macht deutlich, dass das Mehrheitswahlrecht im Vergleich zur Verhältniswahl die Stimmen verzerrt in Mandate überträgt und somit nicht jede Stimme gleich viel zählt. Aus diesem Grund ist die Verhältniswahl der Mehrheitswahl eindeutig vorzuziehen. Auch in Großbritannien stößt das Mehrheitswahlrecht auf Kritik, auch wenn die Reform des Wahlrechts zu Gunsten einer weniger verzerrenden Form der Mehrheitswahl – dem Alternative Voting oder Instant Runoff Voting – von den WählerInnen klar abgelehnt wurde.

Verzerrung bei der britischen Unterhauswahl 2005
Personalisierte Verhältniswahl in Deutschland
Die Abgeordneten des Bundestages und der meisten Landtage werden durch das System der personalisierten Verhältniswahl gewählt, wobei eine Sperrklausel von fünf Prozent bzw. drei Direktmandaten gilt. Die Sitzverteilung im Parlament richtet sich im Wesentlichen nach dem Anteil der Zweitstimmen. Mit der Erststimme wird der/die Wahlkreisabgeordnete nach relativer Mehrheit bestimmt. Diesem System liegt die Idee zugrunde die Vorteile von Verhältnis- und Mehrheitswahl zu vereinen. Die Zweitstimme stellt die weitestgehend verzerrungsfreie Verteilung der Mandate sicher, während durch die Erststimme eine persönliche Bindung zwischen den WählerInnen und ihrem/ihrer Wahlkreisabgeordneten erreicht werden soll.

Schematischer Ablauf der personalisierten Verhältniswahl (Quelle: Horst Frank)
Zum einen ist die Annahme, dass das Verhältnis zwischen WählerInnen und Wahlkreisabgeordneten enger ist, scheint fragwürdig. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise kennen laut einer Umfrage von polis sinus lediglich 41 Prozent ihre/n Wahlkreisabgeordnete/n im Landtag. Außerdem ändert sich die personelle Zusammensetzung des Parlaments kaum, wenn ein/e andere/r Kandidat/in das Mandat gewinnt. Die meisten DirektkandidatInnen sind über einen vorderen Listenplatz gegen eine Niederlage abgesichert und ziehen in das Parlament ein, egal ob sie die Mehrheit im Wahlkreis erhalten oder nicht. Bei der Bundestagswahl 1998 hätte es lediglich in 18 der 328 Wahlkreise einen Unterschied auf die personelle Zusammensetzung des Bundestages gemacht, wenn jemand anderes den Wahlkreis gewonnen hätte. Aus diesem Grund kommt wahlrecht.de zu dem Schluss, dass die Erststimme »weitestgehend wirkungslos« und »in aller Regel bedeutungslos« ist. Allerdings gibt es mit Hans-Christian Ströbele von den Grünen ein prominentes Gegenbeispiel. Er hat das Direktmandat im Wahlkreis Berlin-Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost seit 2002 gewonnen ohne auf der Landesliste abgesichert zu sein.

Hans-Christian Ströbele (Foto von Stefan Pangritz)
Überhangmandate verzerren das Wahlergebnis
Die einzige wirklich bedeutsame Auswirkung der Erststimme liegt in den Überhangmandaten. Diese treten auf, wenn eine Partei mehr Direktmandate über die Erststimme gewinnt, als ihr verhältnismäßig durch die Zweitstimme zustehen würden. Die Partei erhält folglich mehr Sitze, als sie bei aufgrund der Verhältniswahl gewonnen hätte. Dadurch wird das Ergebnis verzerrt. Bei der vergangenen Bundestagswahl konnten die Unionsparteien insgesamt 24 Überhangmandate erringen, während die SPD auf keines kam. Die Union konnte dadurch 38,4 Prozent der Sitze einnehmen, obwohl sie nur auf 33,8 Prozent der Stimmen kam. Gerade bei knappen Wahlausgängen können die Überhangmandate von Bedeutung sein. Es besteht die Gefahr, dass eine Koalition die Regierung bildet, die zwar über mehr Sitze im Bundestag verfügt, aber weniger Stimmen als ein anderes Parteienbündnis erhalten hat. Das Wahlergebnis würde auf den Kopf gestellt. Aus diesem Grund hat der Verein Mehr Demokratie, der sich für direkte Demokratie und stärkere Bürgerbeteiligung einsetzt, eine Kampagne gegen Überhangmandate gestartet.

Reform des Wahlrechts
Aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts sind die Parteien gezwungen das Wahlrecht ohnehin zu ändern. Es gibt mehrere Möglichkeiten das personalisierte Verhältniswahlrecht mit geringfügigen Veränderungen zu erhalten. Doch warum sollte überhaupt die wirkungslose Erststimme beibehalten werden? Mit einem neuen Wahlsystem sollten die Wählerinnen und Wähler wirklich Einfluss auf die personelle Zusammensetzung erhalten und die von den Parteien vorgegebenen starren Listen beeinflussen können. Zwei Wahlsysteme kommen dafür in Frage.

Offene Listen
Die Erststimme wird abgeschafft und die Zusammensetzung richtet sich ausschließlich nach der Anzahl der Stimmen, die eine Partei erhält. Auch die Fünfprozenthürde bleibt erhalten. Allerdings können nun die WählerInnen die Zusammensetzung der Parteilisten verändern. Sie haben mehrere Stimmen und können diese auf die Personen ihrer Wahl auch von verschiedenen Parteien verteilen. In Hamburg beispielsweise konnten die WählerInnen bei der vergangenen Bürgerschaftswahl im Februar bis zu fünf Stimmen abgeben und dadurch die Reihenfolge auf der Liste verändern. Alternativ konnte auch eine Listenstimme vergeben werden, so dass die von der Partei vorgegebene Reihenfolge übernommen wird. Die WählerInnen können so besonders engagierte KandidatInnen belohnen, weniger einsatzfreudige Personen werden abgestraft. Bei Kommunalwahlen in den meisten deutschen Bundesländern und bei Wahlen in Belgien, Luxemburg, Dänemark und der Schweiz kommen offene Listen zur Anwendung. Sie unterscheiden sich beispielsweise bei den Möglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens.

Stimmzettel zur Bürgerschaftswahl in Bremen am 22. Mai 2011
Übertragbare Einzelstimme
Bei diesem Wahlsystem wird das Bundesgebiet in Wahlkreise eingeteilt und in jedem Wahlkreis stehen mehrere Personen zur Wahl. Dabei vergeben die WählerInnen nicht einfach nur eine Stimme, sondern legen eine Rangfolge zwischen den KandidatInnen fest. Ein/e Kandidat/in muss eine gewisse Anzahl an Stimmen erreichen um gewählt zu werden. Sobald ein/e Kandidat/in diese Quote mit den Erstpräferenzen erreicht hat, werden die überschüssigen Stimmen entsprechend der Zweitpräferenzen an die übrigen KandidatInnen verteilt. Wenn danach ein/e Kandidat/in die Quote erreicht hat, ist auch er/sie gewählt und die Stimmen werden nach der Drittpräferenz verteilt. Dieses Verfahren setzt sich solange fort, bis alle Sitze im Wahlkreis vergeben sind oder keiner die notwendige Quote erreicht. Dann werden die Stimmen der/des letztplatzierten /Kandidatin/Kandidaten umverteilt, bis alle Sitze vergeben sind. Das Prinzip wird bei Wahlen in Australien, Irland, Nordirland und Island verwendet. Diese Animation illustriert das Verfahren sehr gut. Insgesamt führt dieses Wahlsystem zu Proportionalität und die WählerInnen können die personelle Zusammensetzung des Parlaments beeinflussen. Über die Anzahl der zu vergebenden Sitze im Wahlkreis kann auch die Sperrklausel gesteuert werden.

Musterstimmzettel mit übertragbarer Einzelstimme für das Oberhaus im australischen Bundesstaat Victoria
Es gibt Alternativen zum aktuellen Wahlsystem, die den WählerInnen mehr demokratische Mitbestimmung ermöglichen. Wenn der Gesetzgeber das Wahlrecht reformiert, dann sollte er den Bürgerinnen und Bürgern mehr Möglichkeiten zur Einflussnahme einräumen und dadurch mehr Demokratie wagen. Auch die Parteien sollten bereit sein einen Teil ihrer Macht an die BürgerInnen abzugeben. Im nächsten Teil der Serie befasse ich mich deshalb mit der innerparteilichen Demokratie und Beteiligung.

Donnerstag, 23. Juni 2011

Geht ein Vegetarier zur Grillparty…

Der gemeine Umweltheld lebt nicht von Moral allein, deswegen kollaboriere ich ab heute regelmäßig mit Monsieur Daniel und poste zum ökologisch korrekten Konsum oder wie man eine stinknormale WG in eine Öko-WG verwandelt. Ach, was soll’s, meistens werden es Rezepte sein.

Es sind verschiedene amüsante Szenarien möglich, wenn Vegetarier mit dem kollektiven Frönen archaischer Zubereitungsweisen kollidieren. Mitgebrachte Tofu-, Seitan- oder Lupinewürstchen können auch gestandene Steakfreunde neugierig machen, die meisten stellen dann anerkennend fest, dass der Ersatz so schlecht ja gar nicht schmeckt, aber eben überhaupt nicht nach Fleisch. Vor lauter probierfreudigen Mitgrillern bleibt mir am Ende die Wahl zwischen einem Rückfall in Richtung Nackensteak und welkem Salat. In diesem Dilemma wiesen besorgte Familienmitglieder mich schon mal darauf hin, dass das Steak von einer glücklichen Kuh stamme, dann sei es doch in Ordnung, oder?

Ich könnte dann einwenden, dass die Kuh weder zu Tode gestreichelt wurde noch freiwillig in die quietschgrüne Marinade gesprungen ist. Aber ich will doch gar nicht diskutieren sondern nur essen. Glücklicherweise läuft es fast immer anders: Butter wird für kalorienfrei erklärt (ist ja auch ultragesund mit all den Kräutern), es gibt Dessert (hurra!) und am Ende wird aus dem Grillfeuer ein Lagerfeuer und man kokelt sich fröhlich Löcher in die Sachen.

Ähnlich wie es die in Etikettefragen stets souveräne Helena Echlin empfiehlt, verzichte ich also auf teure Vegiprodukte und mache einen Nudelsalat, der ausnahmslos allen schmeckt, auch Veganern. Das dann aber bitte nicht den Steakfreunden sagen.


Ich wünschte ich könnte für dieses Rezept eine spezifischere Quelle angeben als »meine Großcousine Ina«, auf deren Prenzlberger Geburtstagsbrunch ich diesen Salat zum ersten Mal gegessen habe. Ich wünschte auch, dass ich einen besseren Namen als »Nudelsalat« parat hätte, etwa »Farfalle alla Ina con pomodori e basilico« oder »Rot-Grünes Genudel«. Tatsächlich ist dies der Nudelsalat par excellence in meiner Familie, jeder weiß sofort, dass nur dieser Salat gemeint sein kann. Und jeder, der meine essensfixierte Familie kennt, versteht sofort, dass das für ihn spricht.

Nudelsalat

Rezept: Großcousine Ina
dauert: 45 Minuten plus einige Stunden im Kühlschrank 
schwierig: nö

500 g Farfalle (Ich verwende Barilla, weil ich sie gut finde, nicht weil ein charmanter parmesischer Signore mir einen lebenslangen Vorrat versprochen hat, wenn ich sein Produkt hier unterbringe)
900 g Kirschtomaten
60 g Pinienkerne
½ Bund Basilikum
frischer Oregano
1 kleine Knoblauchzehe
Weißweinessig oder anderer heller, milder Essig
Olivenöl
Salz
Pfeffer

Na dann. Zuerst reichlich Wasser in einem großen Topf mit einem Esslöffel Salz aufkochen, Nudeln nach Packungsanweisung kochen. Abgießen, nicht abspülen.

Pinienkerne bei mittlerer Hitze ohne Fett anrösten, bis sie knistern und unglaublich gut riechen.

Die Tomaten waschen, halbieren und Samen entfernen, dabei den Saft durch ein Sieb in eine große Schüssel abtropfen lassen. Anschließend mit einem Löffelrücken den restlichen Saft durch das Sieb in die Schüssel drücken.


Eine kleine Knoblauchzehe fein reiben. Ich mache das mit der Vorderseite einer abgelaufenen Kreditkarte, gibt feinstes Knoblauchmus, das sich sehr gut verteilt. Wer weniger Knoblauch mag, reibt vor der Tomatensauerei die Schüssel mit einer halbierten Zehe aus.

Knoblauch mit dem abgetropften Tomatensaft, einem Esslöffel Essig, einem Teelöffel Salz und einem halben Teelöffel Pfeffer in der Schüssel mischen, bis sich die Salzkristalle aufgelöst haben.

50 ml Olivenöl dazugeben und die hoffentlich noch warmen Nudeln untermischen, sodass sie nicht mehr zusammenkleben. Etwa ½ Bund oder nach Geschmack feingeschnittenes Basilikum dazugeben, plus einen Esslöffel frischen gehackten Oregano. Zuletzt die Pinienkerne dazu und am besten abgedeckt ein paar Stunden im Kühlschrank durchziehen lassen. Eventuell nachsalzen.


Monsieur Daniel sagt: »Kann ich noch was von deinem Teller haben?«
Mademoiselle Hannah sagt: »einfach, aber gut«
Mademoiselle Inken sagt: »Geil, ist das der vom Grillen?«

Sonntag, 19. Juni 2011

Aktionen und Petitionen der Woche (Nr. 1)

Seit einigen Jahren haben viele Organisationen Aktionen im Internet gestartet. Die prominentesten Beispiele sind wohl Campact, Avaaz und GreenAction. Daneben erfreuen sich die Petitionen an den Bundestag immer größerer Beliebtheit, wie die Petition gegen Internetsperren mit insgesamt 134.015 UnterzeichnerInnen zeigte. Da es bisher keinen Überblick über die verschiedenen Aktionen und Petitionen gibt, werde ich ab sofort einmal die Woche einen solchen zusammenstellen.

Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Falls jemand weitere interessante Aktionen findet, kann sie/er mich gerne in den Kommentaren oder per E-Mail darauf aufmerksam machen. Wenn ich eine Aktion oder Petition erwähne, bedeutet das nicht, dass ich diese unterstütze. Eine Vielzahl weiterer Aktionen und Petitionen findet ihr auf bewegung.taz.de und eine Übersicht über alle laufenden Volksbegehren beim Mehr Demokratie e. V.

Aktionen
↓ Amnesty International
↓ attac
↓ Avaaz
↓ Campact
↓ Deutsche Knochenmarkspendedatei (DKMS)
↓ Food First Information and Action Network (FIAN)
↓ Foodwatch
↓ Greenpeace/GreenAction
↓ Survival International

↓ Petitionen an den Bundestag

Amnesty International
Flüchtlinge aus Nordafrika: Auch Deutschland muss helfen!
Stoppt die Gewalt in Mexiko!
China: Wo ist Ai Weiwei?
Freiheit für Mohammad Sadiq Kabudvand
Burkina Faso: Schwangerschaft mit tödlichen Folgen
Kenia: Menschenrechte für Nairobis Slumbewohner
Kambodscha: Widerrechtliche Zwangsräumungen stoppen
Nigeria: Der Fluch des schwarzen Goldes
Afghanistan: Frauenrechtlerinnen brauchen Schutz
Fordern Sie Freiheit for Liu Xiaobo!
Kroatien: Zeugen von Kriegsverbrechen schützen

Vergangene Woche gestartete Eilaktionen
Bahrain: Ungewissheit über Hinrichtung
Guatemala: Familie ermordeter Menschenrechtlerin gefährdet
Iran: Drohende Hinrichtungen am 26. Juni
Irak: Noch immer im Gefängnis
Saudi-Arabien: Haft ohne Kontakt zur Außenwelt
Simbabwe: Prozess wegen Diskussion
Mexiko: Angriff auf Migranten
Kuwait: Online-Aktivist inhaftiert
Bahrain: Haft nach Verbüßen der Strafe
USA: Drohende Hinrichtung
Honduras: LGBT-Aktivist bedroht
Bahrain: Rechtsanwalt vor Gericht
Bahrain: Ein Jahr Haft wegen Gedichts

Briefe gegen das Vergessen vom Juni
Kenia: Al-Amin Kimathi
Aserbaidschan: Ruslan Bessonov, Maksim Genashilkin und Dmitri Pavlov

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attac
Bank wechseln und Politik verändern!
Nein zum Angriff auf soziale und demokratische Rechte in Europa!
Hermes-Bürgschaften - Atomtod exportiert man nicht!

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Avaaz
Retten Sie die traurigsten Delfine
Deutschland: Energiewende jetzt!
EU: Retten Sie pflanzliche Arzneimittel
Stoppen Sie die Folter wegen Wikileaks-Weitergabe
Südafrika: »Korrigierende Vergewaltigung« stoppen
Großbritannien: Stoppen Sie Rupert Murdoch
Stoppen Sie das scharfe vorgehen gegen Wikileaks!

Im Erlebnispark Ressort World Sentosa leben 25 Delfine in Gefangenschaft

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Campact
Atom-Risiko bis 2022? Nicht mit uns!
Vorratsdaten: Sagen Sie Nein!
Klima: Keine Kohle für Kohle
Kinderrechte jetzt! Kinderrechte kennen keine Herkunft

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Deutsche Knochenmarkspendedatei (DKMS)
Registrierungsveranstaltungen
25.06. in Peine: Hilfe für Engincan und andere!
25.06. in Blaustein: Engincan braucht weiterhin unsere Hilfe!
25.06. in Rüsselsheim: Hilfe für Stephanie und andere!
25.06. in Berlin: Lebensretter für Muammer und andere gesucht!
26.06. in Ebersbach: Hilfe für Celal und andere!
26.06. in Nordenham: Engincan und andere brauchen unsere Hilfe!
26.06. in Mülheim an der Ruhr: Hilfe für Gamze und andere!
26.06. in Delmenhorst: Delmenhorst engagiert sich im Kampf gegen Leukämie
Online-Registrierung

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Food First Information and Action Network (FIAN)
Fair Flowers for Human Rights
Klimaschutz ist Menschenrecht

Eilaktionen
Tagebau bedroht Indigene in Kusum Tola, Karanpura Tal, Jharkhand

Logo der Kampagne »Klimaschutz ist Menschenrecht«
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Foodwatch
»Gratulieren« Sie Ferrero zum Goldenen Windbeutel!
Gegen versteckte Käfigeier!
Schluss mit dem Dioxin im Essen!

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Greenpeace/GreenAction
Wehren Sie sich - ein Atomausstieg 2022 ist zu spät!

Vergangene Woche gestartete Kampagnen
Mit anpacken, anstatt nur immer Worte worueber verlieren
Wilder Garten

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Survival International
Petitionen
Unkontaktierte Völker
Gibe III stoppen

Briefkampagnen
Aborigines, Australien
Akuntsu, Brasilien
Awá, Amazonien, Brasilien
Ayoreo-Totobiegosode, Paraguay & Bolivien
Batak, Philippinen
Belo Monte Staudamm, Brasilien
Buschleute, Kalahari, Botswana
Dongria Kondh, Indien
Enawene Nawe, Brasilien
Guarani, Brasilien
Indigene Völker am Madeira Fluss und Belo Monte Damm, Brasilien
Indigene Völker in Papua, Indonesien
Innu, Kanada
Isolierte Völker, Peru
Jarawa, Andamanen, Indien
Jumma, Bangladesch
Nukak, Kolumbien
Palawan, Philippinen
Penan, Sarawak, Malaysia
Pygmäen, Zentralafrika
Sentinelesen, Indien
Völker im Omo Tal, Äthiopien
Zo'é, Brasilien



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Petitionen an den Bundestag
Vergangene Woche gestartete Petitionen
Regelungen zur Altersrente – Koppelung des Renteneintrittsalters an die durchschnittliche Lebenserwartung
Arbeitsmarktpolitik – Zurückweisung des Gesetzentwurfs zur Leistungssteigerung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente
Wissenschaft und Forschung – Verfügbarkeit von Forschungsberichten und Gutachten in deutscher Sprache
Arbeitsrecht – Ergänzung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes
Berufsbildungsgesetz – Keine Wiedereinführung der Sozialversicherungspflicht für dual Studierende
Grundrechte – Keine neuen Quotenregelungen mehr
Verbraucherschutz – Verbot von Tierversuchen, Kennzeichnungspflicht für Importware
Gesetzliche Krankenversicherung – Leistungen – Bedarfsgerechte Versorgung mit Hospizplätzen
Personenstandswesen – Menschenwürdigeres Leben von Intersexuellen, Transsexuellen und Transvestiten
Flugsicherung – »Lenkzeiten« für Verkehrsflugzeugführer
Energiepreise – Preisanpassung nur zum Zeitpunk der Versorgung der Tankstellen
Unterhaltsrecht – Erneute Reform des Unterhaltsrechts
Energiewirtschaft – Verbot von Rennsport mit motorbetriebenen Fahrzeugen in Deutschland

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Dienstag, 14. Juni 2011

Zunahme der Hinrichtungen in Saudi-Arabien stoppen (Amnesty-Aktion Nr. 2)

In Saudi-Arabien hat die Zahl der Hinrichtungen in diesem Jahr deutlich zugenommen. Alleine im Mai wurden 15 Menschen exekutiert. In der Amnesty-Aktion, die ich diesen Monat vorstelle, geht es um zwei Todesurteile, die in Kürze vollstreckt werden sollen. Eine Verurteilte war zum Tatzeitpunkt minderjährig, der andere wurde wegen »Hexerei« zum Tode verurteilt. Amnesty International protestiert gegen die Todesurteile und ich habe einen Musterbrief zu dieser Aktion verfasst.

Die heute 22jährige Rizana Nafeek wurde am 16. Juni 2007 zum Tode verurteilt, weil sie im Mai 2005 in Dschidda am Roten Meer nahe Mekka ein Kleinkind in ihrer Obhut getötet haben soll. Zum Tatzeitpunkt war die Hausangestellte aus Sri Lanka 17 Jahre alt und damit minderjährig. Der oberste saudische Gerichtshof in Riad bestätigte im Oktober letzten Jahres das Todesurteil. Nun steht nach Angaben von Amnesty International die Hinrichtung durch Enthauptung kurz bevor.

Die saudische Justiz behauptet, dass Rizana Nafeeks laut Reisepass 1982 geboren wurde und sie somit zum Tatzeitpunkt 23 Jahre alt gewesen sei. Dieser Pass wurde wahrscheinlich gefälscht, damit sie Arbeit in Saudi-Arabien aufnehmen durfte, was nur Volljährigen gestattet ist. Sie selbst behauptet 1988 geboren zu sein. Entsprechende Beweise durfte sie allerdings nicht vorbringen, auch Rechtsbeistand wurde ihr während der Haft und des Prozesses verweigert. Ein Geständnis, das sie in der Haft abgab, hat sie mittlerweile widerrufen. Die genauen Tatumstände sind bisher nicht geklärt, wobei Menschenrechtsorganisationen davon ausgehen, dass der Säugling durch einen Unfall beim Füttern mit der Flasche starb.

Rizana Nafeek (Quelle: Asian Human Rights Commission)
Abdul Hamid al-Fakki: Verurteilt wegen Zauberformel
Im zweiten Fall droht dem Sudanesen Abdul Hamid Bin Hussain Bin Moustafa al-Fakki die Hinrichtung wegen »Hexerei«. Er wurde am 27. März 2007 von einem Gericht in Medina zum Tode verurteilt und auch hier geht Amnesty von einer bevorstehenden Exekution durch Enthauptung aus. Der Verurteilte hatte ebenfalls keinen Rechtsbeistand und der Prozess fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Während der Haft soll Abdul Hamid al-Fakki durch Schläge misshandelt worden sein.

Abdul Hamid al-Fakki (Foto von Amnesty International Deutschland)
Am 8. Dezember 2005 bat ein Mitarbeiter der saudischen Religionspolizei Mutawaeen – Komitee zur Verbreitung der Tugend und Verhütung des Lasters – den Sudanesen eine Zauberformel vorzutragen, um zu erreichen, dass die Mutter des Religionspolizisten wieder zu seinem leiblichen Vater zurückkehrt. Dafür sollte Abdul Hamid al-Fakki 6000 Saudi-Rial (ungefähr 1100 Euro) erhalten, davon 2000 Rial als Vorschuss. Er willigte ein und traf sich noch am selben Tag mit dem Polizisten. Der Verurteilte übergab ihm neun kleine Papierstücke mit in Safran beschriebenen Sprüchen und erhielt den Rest der vereinbarten Summe. Kurze Zeit später durchsuchte die Religionspolizei Abdul Hamid al-Fakki und fand bei ihm die Geldscheine, deren Seriennummern sie vorher notiert hatten. Die Religionspolizei verhaftete ihn und später folgte seine Verurteilung in Medina.

Logo der saudischen Religionspolizei
Deutliche Zunahme der Hinrichtungen in Saudi-Arabien
Saudi-Arabien verhängt die Todesstrafe für eine Vielzahl von Verbrechen, darunter auch solche, bei denen die Opfer des Verbrechens nicht zu Tode kommen. Im Jahr 2009 wurden 69 Personen, davon 19 AusländerInnen, exekutiert, wobei die Dunkelziffer wahrscheinlich höher liegt. In diesem Jahr zeichnet sich eine deutliche Zunahme der Hinrichtungen ab. Ausländische GastarbeiterInnen sind besonders häufig betroffen und müssen bei Vergehen mit härteren Strafen rechnen.

Der Tatbestand der »Hexerei« ist nach saudischen Recht nicht genau definiert und wird häufig angewendet, um KritikerInnen an der freien Meinungsäußerung zu hindern. Des Weiteren entsprechen die Strafverfahren nicht internationalen Standards und es kommt nicht selten zu Folter und Misshandlungen in der Haft.

Amnesty International hat gegen die bevorstehende Hinrichtungen eine Eilaktion gestartet, an der ich mich mit meinem Blog beteilige und meine LeserInnen ebenfalls darum bitte teilzunehmen. Wenn jemand eine Antwort von den Verantwortlichen erhalten sollte, so schickt sie bitte an Amnesty (ua-de@amnesty.de) und wenn möglich an mich (umweltheld@gmail.com). Ich werde die Antworten, wenn gewünscht, in anonymisierter Form hier veröffentlichen.

Musterbrief an den König von Saudi-Arabien und den Innenminister
Für die deutsche und englische Version habe ich mich an den Vorgaben von Amnesty orientiert. Falls jemand Arabisch kann und Lust hat den Brief zu übersetzen, würde ich auch gerne eine arabische Version veröffentlichen. Der Musterbrief ist an den saudischen König gerichtet, die Anrede für den Innenminister steht in Klammern im Schreiben.

Anschriften
His Majesty
King Abdullah bin Abdul-Aziz Al Saud
The Custodian of the two Holy Mosques
Office of His Majesty the King
Royal Court
Riad
Saudi-Arabien – Arabie Saoudite

Ein Luftpostbrief nach Saudi-Arabien kostet 0,75 Euro. Luftpostaufkleber findet ihr hier.

König Abdullah ibn Abd al-Aziz Al Saud

His Royal Highness
Prince Nayef bin Abdul-Aziz Al Saud
Ministry of the Interior
P.O. Box 2933, Airport Road
Riad 11134
Saudi-Arabien – Arabie Saoudite

Fax: (00 966) 1 403 3125

Innenminister Prinz Naif bin Abd al-Aziz Al Saud (Foto von The Epoch Times)
Betreff: Todesurteile gegen Rizana Nafeek und Abdul Hamid bin Hussain bin Moustafa al-Fakki

Eure Majestät, (Eure königliche Hoheit,)

Rizana Nafeek und Abdul Hamid bin Hussain bin Moustafa al-Fakki wurden von saudischen Gerichten zum Tode verurteilt. Beide hatten in Haft und während des Strafverfahrens keinen Rechtsbeistand.

Rizana Nafeek war zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alt und damit minderjährig. Ich möchte Eure Majestät (Eure königliche Hoheit) darin erinnern, dass Saudi-Arabien Vertragsstaat des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes ist, das die Exekution Minderjähriger verbietet. Abdul Hamid al-Fakki wurde wegen Hexerei zum Tode verurteilt. Sollte er wegen Gebrauchs seines Rechtes auf freie Meinungsäußerung und Religionsfreiheit festgenommen und verurteilt worden sein, wäre dies mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte unvereinbar.

Ich möchte Eure Majestät (Eure königliche Hoheit) nachdrücklich auffordern, Rizana Nafeek und Abdul Hamid bin Hussain bin Moustafa al-Fakki zu begnadigen und ihre Todesurteile in Haftstrafen umzuwandeln.

Mit großer Sorge habe ich die jüngste Zunahme an Hinrichtungen in Saudi-Arabien zur Kenntnis genommen und fordere, dass die saudischen Behörden umgehend ein Hinrichtungsmoratorium verhängen und alle bereits ergangenen Todesurteile in Haftstrafen umwandeln.

Mit ausgezeichneter Hochachtung



Subject: Death sentence of Rizana Nafeek and Abdul Hamid bin Hussain bin Moustafa al-Fakki

Your Majesty,
(Your Royal Highness,)

Rizana Nafeek and Abdul Hamid bin Hussain bin Moustafa al-Fakki were sentenced to death by Saudi courts. None of them had legal representation while being held in custody and during the trial.

Rizana Nafeek was 17 years old at the time of the offence and therefore a minor. I would like to remind Your Majesty (Your Royal Highness) that Saudi Arabia is a state party of the UN Convention on the Rights of the Child prohibiting executions of minors. Abdul Hamid bin Hussain bin Moustafa al-Fakki was convicted of witchcraft. An arrest due to his calling upon the right to free speech and religious freedom would violate the Universal Declaration of Human Rights.

I would like to urge Your Majesty (Your Royal Highness) to grant clemency to both Rizana Nafeek and Abdul Hamid bin Hussain bin Moustafa al-Fakki and commute their death sentences.

With great concern I have noticed the recent rise in executions in Saudi Arabia and I demand Saudi authorities to impose an immediate moratorium on executions and to commute all death sentences.

Yours sincerely,